Gibt es schlechte Gefühle?

Manchmal verwechseln wir "unangenehme" mit "schlechten" Gefühlen. Sobald wir uns ängstlich, unsicher oder angespannt fühlen, haben wir das Gefühl, dass etwas "falsch" ist: mit uns oder der Situation. Und dass es uns besser gehen würde, wenn wir dieses Gefühl loswerden könnten. Wie können wir mit diesen scheinbar "negativen Emotionen" umgehen, die uns gefühlt das Leben schwer machen?

Manchmal bemerke ich den Gedanken: "Oh, ich wünschte, ich wäre jetzt nicht so angespannt!" noch bevor ich das eigentliche Gefühl bemerke, dass ich da gerade wegwünsche. Kennen Sie das? Dass Sie sich dabei erwischen zu denken: "Warum kann ich jetzt gerade nicht weniger ängstlich sein?" oder "Warum muss ich mir immer so viele Sorgen machen?" Ich denke, solche Gedanken kennen viele. Wir alle möchten glücklich sein und es ist eine sehr natürliche Reaktion, dass wir vermeiden oder verändern wollen, was unangenehm ist. Unangenehme Zustände vermeiden zu wollen und etwas gegen sie zu tun, ist oftmals klug: Zu trinken, wenn der Körper signalisiert, dass er Wasser braucht oder die Hand von einer heissen Herdplatte zu nehmen, wenn wir merken, dass es weh tut. Es ist unser angeborener Überlebensinstinkt, der uns immer wieder anzeigt, was wir tun und lassen sollten, um unser Überleben zu sichern. Im Umgang mit äusseren Gefahren machen diese Verhaltensweisen Sinn; im Umgang mit unseren Gefühlen sind sie weniger hilfreich:  Dass wir negative Gefühle nicht zulassen, nicht fühlen wollen, sondern gegen sie ankämpfen oder sie auf andere Weise zu verdrängen versuchen, hilft nicht wirklich dabei, sie zu bewältigen.  Viele Menschen entwickeln Strategien um nicht fühlen zu müssen, was unangenehm ist: Das geht von permanentem Essen über 60 Stunden Arbeit pro Woche bis hin zu Drogen und Alkohol, die oft kurzfristig Erleichterung verschaffen aber langfristig natürlich nicht funktionieren. Andere Menschen entfernen sich immer weiter von ihren Gefühlen und nehmen tatsächlich gar nicht mehr war, was innerlich in ihnen vorgeht…

Es ist jedoch ein Irrglaube, dass wir denken, es ginge uns besser, wenn wir vor innerer Anspannung, Leere oder Schwere weglaufen und es schaffen, nur die angenehmen Gefühle wahrzunehmen. Ich glaube, wenn wir nur noch die angenehmen Gefühle wahrnehmen wollen und die anderen zu unterdrücken versuchen, dann berauben wir uns selbst einer tiefen menschlichen Erfahrung und letztlich auch der Möglichkeit von authentischem Glück und tiefer Zufriedenheit. Weil es eben nur die halbe Seite des Lebens ist. Wenn wir unsere unangenehmen Gefühle wie Wut, Schuldgefühle, Enttäuschung, Scham oder Trauer verdrängen, sobald sie auftauchen, übersehen wir viel zu schnell, wie wertvoll alle unsere Emotionen sind: Emotionen sind funktional und informativ. Wann immer Gefühle auftreten, haben sie uns etwas Wichtiges mitzuteilen. Wenn wir hingegen unsere Gefühle ignorieren, ist das also ist ein bisschen so, als wenn  jemand zu uns käme, an die Tür klopfen würde mit einer wichtigen Botschaft und wir würden diese  Person dann anschreien, dass sie verschwinden solle, noch bevor sie ein Wort sagen kann. Was ich damit sagen möchte: Ich glaube, es ist wirklich nicht klug, Gefühle verscheuchen zu wollen, noch bevor wir sie anhören. Dass manche Gefühle sich unangenehm anfühlen, macht sie noch lange nicht "schlecht".

Wie kann dann ein anderer Umgang mit den eigenen Emotionen aussehen, die wir als unangenehm und belastend erleben?

Vielleicht mit Neugier, Offenheit und Akzeptanz. Wenn "negative Gefühle" verdrängt oder bekämpft werden, wachsen sie über die Zeit und werden noch schwieriger zu ertragen. Sie wahrzunehmen und anzunehmen transformiert diese Gefühle und auch den Einfluss, den sie auf uns haben. So fühlt sich Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit schon etwas leichter an, wenn man sie annimmt und "einfach da sein" lässt und wir bemerken mit der Zeit, dass wir mehr sind als diese Gefühle. Selbstverständlich ist das nicht einfach; vor allem dann, wenn wir einen anderen Umgang mit unseren Emotionen gewohnt sind. Für alle Menschen ist das achtsame Wahrnehmen und das Akzeptieren von Emotionen herausfordernd und geschieht nicht automatisch. Automatisch funktionieren eher die Verdrängungsmechanismen, die man sich über Jahre angewöhnt hat….

Viele Menschen meinen, dass es eine Art von Resignation den eigenen Gefühlen gegenüber ist, sie einfach da sein zu lassen. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Ich weiss, dass die Wahrnehmung, Annahme und Erkundung der eigenen Gefühle immer der erste Schritt zu Veränderung ist. Erst wenn wir Gefühle wirklich da sein lassen, können wir in einem nächsten Schritt sinnvoll mit ihnen umgehen. Sonst bleibt es ein Schattenkampf, der endlos werden kann. Klar, wir alle wollen glücklich sein, am liebsten immer. Aber wenn wir deshalb versuchen, alle Gefühle die traurig, leidvoll und schwierig sind, aus unserem Leben zu verbannen, ohne uns näher mit ihnen zu beschäftigen, dann behindern wir uns im Glücklichsein so viel mehr, als wir denken. Es ist wichtig, vor allem auch dem Schweren  einen Platz im Leben einzuräumen. Egal wie stark die eigenen negativen Gefühlslagen nun ausgeprägt sind, diese wahrnehmen und akzeptieren zu können ist eine wichtige Grundlage für psychische Gesundheit und ebnet den Weg für echtes Wohlbefinden abseits von "toxic positivity". Es erfordert Mut, sich darauf einzulassen und ich glaube, dass es für uns alle eine lebenslange Aufgabe ist, uns immer wieder für das gesamte Spektrum unserer menschlichen Erfahrung zu öffnen, das reicher ist, als jeden Tag Sonnenschein.

Hier meine Ideen für Sie, einen achtsamen Umgang mit Ihren Gefühlen zu wagen:

  • "Wo immer Sonne scheint, ist Wüste." Für viele funktioniert das arabische Sprichwort gut, um das eigene emotionale Erleben anzunehmen, wenn es unangenehm wird…. Der Regen ist dann besser zu ertragen, wenn wir wissen, dass er genauso wichtig ist wie die Sonne, damit es Leben und Wachstum geben kann. Wir alle freuen uns, wenn wir auf der Sonnenseite des Lebens stehen - und vergessen dabei manchmal den Wert der Regenzeit.

  • Geben SIe Ihren Gefühlen Raum. Wenn Sie merken, dass Sie etwas beschäftigt und Sie nicht unbeschwert sind: Schalten Sie eher einen Gang runter und geben Sie dem Gefühl Raum. Noch bevor Sie es verstehen möchten, lassen Sie einfach alles da sein, was gerade ist. Ohne Bewertung. Vielleicht helfen Ihnen die Worte von Jon Kabat-Zinn, um Ihre Gefühle zu erkunden.

  • Fühlen Sie Ihre Emotionen. Noch bevor wir Emotionen fühlen, nehmen wir sie körperlich wahr. Das ist allerdings nicht so einfach und manchmal bemerken wir dies erst, wenn es schon "zu spät" ist und sich Stress, Sorgen und Anspannung als körperliche Schmerzen manifestieren. Vor allem Angst setzt sich oft als Verspannung in unserem gesamten Körper fest: Das merken wir dann als Nackenschmerzen oder als nächtliches Zähneknirschen. Diese Verspannungen auf körperlicher Ebene zu lösen,wirkt sich auch auf die "seelischen Verspannungen" aus: Gönnen Sie Ihrem Körper Massagen, Tai Chi oder Yoga. Auch Craniosacral Therapie oder Shiatsu eigenen sich sehr, um sich wieder besser spüren zu lernen.

  • Atmen Sie. Neben Körpertherapie sind auch Atemübungen sehr hilfreich, um Ihre Gefühle achtsam zu erleben. Hier eignet sich vor allem eine Kombination aus Zwerchfellatmung und Body Scan: Erst diese tiefe und freiere Atmung erlaubt es Ihnen, die im Körper bereits gespeicherten Gefühle wahrzunehmen.

  • Take ACTion. Ich arbeite oft mit Ansätzen und Ideen aus der Acceptance & Commitment Therapie (kurz ACT), die achtsames Erleben als Grundpfeiler mentaler Gesundheit definiert. Das Buch "A Liberated Mind. The Essential Guide to ACT" von Dr. Steven Hayes gibt einen gut verständlichen und tieferen Einblick in diese Therapieform, wenn Sie sich hier etwas vertiefen möchten.

  • Filmabend. Ein anderer Anstoss für eine tiefere Auseinandersetzung könnte der Film "The Work" sein. In der Doku geht es um vier Männer, die freiwillig und gemeinsam mit einigen Gefängnisinsassen des Folsom Prison eine viertägige Gruppentherapie erfahren. Ziel ist es, den Teilnehmern wieder Zugang zu ihren eigenen Gefühlen zu verschaffen, die sie vielleicht zeitlebens vergraben haben. Dass sie wieder erleben, was Sie verdrängt haben und Emotionen spüren wie Angst und Trauer von denen sie schon gar nicht mehr wissen, wie sie sich eigentlich anfühlen. Die Doku ist gewaltig, sehr berührend und hat mich extrem beeindruckt. Wenn Sie mal einen freien Abend haben in der nächsten Zeit: Schauen Sie diesen Film.

 

Hier über Gefühle zu schreiben, ist etwas anderes als sie persönlich zu erleben, zu durchleben und einen Umgang zu finden, der uns gut mit ihnen leben lässt. Wir alle wissen, dass es sehr unterschiedliche Dinge sind, Gefühle zu haben oder mit etwas Distanz über sie zu sprechen. Wie es sich anfühlt, Angst zu haben oder richtig traurig zu sein, kann man sprachlich nur recht schwer ausdrücken. Trotzdem hilft oft nichts mehr als darüber zu sprechen. Manchen Gefühlen möchten wir uns lieber nicht allein stellen. Es ist wunderbar, wenn Sie in Ihrem nahem Umfeld Menschen haben, denen Sie vertrauen und welche Sie dabei unterstützen können, über Ängste, Stress und Sorgen zu reden. Auch die Beratung kann ein solcher Ort sein, in dem diesen Gefühlen völlig Raum gegeben werden kann und Sie die Unterstützung erhalten, die Sie brauchen, um sich konstruktiv mit Ihren Gefühlen auseinander setzen zu können. Durch aufmerksames Zuhören und den Versuch, die Weisheit Ihrer unangenehmen Gefühle für Ihre eigene Entwicklung zu nutzen. Ich kann Ihnen versprechen: Noch nie habe ich erlebt, dass diese unangenehmen Gefühle "schlecht" waren. Im Gegenteil, oft sind es Wegweiser mit ganz wichtigen Botschaften an uns, die gehört werden wollen. Ich freue mich auf Sie und Ihre "negativen Gefühle". 

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Wie Achtsamkeit mehr Wohlbefinden und positive Veränderung ermöglicht.